Sie ist die aktuell umfangreichste wissenschaftliche Erhebung an einem öffentlich getragenen Theater, welche die Akzeptanz und Nutzung von Kulturinstitutionen in der Zeit nach der Pandemie analysiert, und dürfte beispielhaft sein für viele Kultureinrichtungen in Deutschland.
Die letzte große Publikumsbefragung an den Staatstheatern Hannover wurde 2015 durchgeführt. Die aktuelle Befragung sollte eigentlich mit dem Start der Intendantinnen Sonja Anders (Schauspiel Hannover) und Laura Berman (Staatsoper Hannover) in der Spielzeit 2019/20 erfolgen. Doch die Corona-Pandemie hat diese Pläne durchkreuzt.
„Das waren tiefe Einschnitte in das Miteinander der Menschen und in der Kultur. Erst jetzt haben wir scheinbar das neue ‚Normal‘ erreicht. Deshalb war das für uns der richtige Zeitpunkt, um zu fragen: Was hat sich verändert? Worauf kommt es jetzt an? Wie machen wir weiter?“, erklärte Verwaltungsdirektor Jürgen Braasch. Denn die Staatstheater Hannover spüren, wie viele andere Veranstalter auch, dass sich das Publikum und seine Gewohnheiten nachhaltig verändert haben.
Gemeinsam mit dem Institut für Kultur und Medienwirtschaft Berlin (IKMW) unter der Projektleitung von Prof. Dr. Klaus Siebenhaar und Achim Müller, die auch 2015 für die Studie verantwortlich waren, führten die Staatstheater Hannover neben einer Publikumsbefragung auch erstmals eine repräsentative Bevölkerungsbefragung in Hannover und der Region durch (Erhebungszeitraum: März bis Mai 2023). Zudem wurden Fokusgruppen-Interviews geführt und statistische Daten sowie demographische Referenzdaten ausgewertet und miteinander verglichen, unter Anwendung aller Instrumente der Empirie.
Die wichtigsten Erkenntnisse im Überblick:
- Corona hat das Kultur- und Freizeitverhalten nachhaltig verändert
- Die Erwartungen und Gewohnheiten des Publikums haben sich gewandelt, insbesondere bei jüngeren Generationen
- Hohe gesellschaftliche Akzeptanz und Zustimmung für die Staatstheater Hannover – auch bei Nichtbesucher:innen
- Das Publikum ist deutlich diverser und durchmischter als angenommen
- Besuchsfrequenz ist deutlich zurückgegangen
Besonders erfreulich ist die hohe gesellschaftliche Akzeptanz und Bekanntheit von Staatsoper und Schauspiel innerhalb der Hannoverschen Bevölkerung: 57 Prozent der Volljährigen (Minderjährige und Schulpflichtige wurden nicht befragt) haben mindestens eine Vorstellung in den Staatstheatern besucht; 42 Prozent kennen immerhin die Institution, auch wenn sie sie noch nie besucht haben. Nur 1 Prozent gab an, die Institutionen gar nicht zu kennen.
45 Prozent stimmten der Aussage zu, die Staatstheater prägen das kulturelle Leben Hannovers bzw. seien wichtig für Hannovers Attraktivität (13 Prozent stimmen „eher nicht“ oder „überhaupt nicht“ zu). Rund 18 Prozent der volljährigen Hannoverschen Bevölkerung zählen zum aktiven Publikum, welches regelmäßig Vorstellungen der Staatstheater besucht. Das entspricht der durchschnittlichen Hochkulturnutzung im Theaterbetrieb, welche deutschlandweit bei 15 Prozent liegt.
„Die Zustimmungswerte für Staatsoper und Schauspiel sind beeindruckend. Auch bei den Menschen, die gar nicht oder nur sehr selten zu uns kommen, herrscht eine große Akzeptanz. Das Vertrauen und Ansehen, das uns entgegengebracht wird, ist in diesen Zeiten keine Selbstverständlichkeit,“ stellte Opern-Intendantin Laura Berman fest.
Publikum ist deutlich diverser
Die zunehmende gesellschaftliche Akademisierung spiegelt sich auch im Publikum wider: Rund 70 Prozent haben einen Hochschulabschluss (2015 waren es noch 56 Prozent). Zudem ist der Anteil der Studierenden innerhalb des volljährigen Publikums auf über 7 Prozent gestiegen (2015 waren es noch 4 Prozent). Das dürfte auch an der Einführung der sog. Theaterflatrate liegen, mit der Studierende über einen kleinen Anteil ihrer Semesterbeiträge kostenlos alle Vorstellungen besuchen können.
Erfreulich ist vor allem, dass sich auch die Vielfalt der Migrationsgesellschaft zunehmend im Publikum abbildet, was den beiden Intendantinnen Laura Berman und Sonja Anders bei ihrem Amtsantritt 2019 besonders am Herzen lag. Rund 16 Prozent des volljährigen Publikums haben eine sog. Migrationsgeschichte (selbst oder mindestens ein Elternteil nicht in Deutschland geboren). 2015 lag dieser Wert noch bei 5 Prozent. Innerhalb des aktiven Publikums, also der Menschen, deren letzter Theaterbesuch maximal ein Jahr her ist, liegt der Anteil sogar bei 26 Prozent, was dem statistischen Wert für Hannover entspricht.
„Es ist ein großer Erfolg, dass es uns allabendlich in unserem Theater gelingt, annähernd den Querschnitt unserer Gesellschaft zu versammeln. Wir arbeiten auch weiterhin intensiv daran, unser Publikum – wie auch das Personal und Programm – in Hinblick auf Vielfalt und Diversität weiter zu entwickeln. Denn nur so werden die Theater zukunftsfähig bleiben,“ erklärte Schauspiel-Intendantin Sonja Anders.
Auch die Altersstruktur des Publikums ist sehr viel ausgewogener als angenommen. Durch den Vergleich zwischen Bevölkerungs- und Publikumsbefragung ergab sich ein sehr differenziertes Bild: Rund 32 Prozent des Publikums entstammt der für Theater oft schwer erreichbaren Altersgruppe von 20 bis 40 Jahren (Minderjährige wurden nicht befragt). Allerdings ist der Altersdurchschnitt im Theatersaal dann wieder deutlich höher, denn Menschen über 50 Jahre kommen häufiger als die Jungen.
Besuchsfrequenz geht zurück
Allerdings ist die Besuchsfrequenz stark zurückgegangen: Es kommen zwar mehr Menschen in die Staatstheater Hannover, aber deutlich seltener. Sie kaufen also insgesamt weniger Tickets. Lag bei der Publikumsbefragung 2015 die durchschnittliche Besuchsfrequenz noch bei 4 bis 6 Vorstellungsbesuchen pro Jahr, so ist sie 2023 auf 1 bis 3 Besuche gesunken. Die Menschen möchten sich immer weniger fest binden, was auch den seit Jahren anhaltenden Trend der schwindenden Abonnement-Zahlen belegt.
Rund 35 Prozent gaben bei der Bevölkerungsbefragung an, dass sie seit der Corona-Pandemie weniger oder andere Kultur- und Freizeitangebote nutzen, unter den Theaterbesuchern bestätigten das 25 Prozent.
Diesen Trend erklärte Prof. Dr. Klaus Siebenhaar (IKMW): „Das Kultur- und Freizeitverhalten hat einen fundamentalen Wandel erfahren, die Sehnsucht der Menschen, vor allem der jüngeren Generationen, nach Kompensation, Unterhaltung, Ablenkung, Erbauung und ‚mental health‘ hat zugenommen. Viele haben ihre Aktivitäten weg von der Hochkultur verlagert. Die wahrgenommenen ‚Zumutungen‘ und Verunsicherungen haben dazu geführt, sich bei Entscheidungen auf den engsten Freundeskreis zu konzentrieren und sich nur noch von den eigenen Vorlieben und nicht mehr von gesellschaftlichen Konventionen leiten zu lassen.“
Atmosphäre und Gesamteindruck werden wichtiger
Bestnoten erhielt das Service- und Gastronomie-Personal der Staatstheater Hannover: 96 Prozent gaben an, „zufrieden“ oder „sehr zufrieden“ zu sein. Mit der Gesamtatmosphäre der Häuser zeigten sich 91 Prozent der Befragten als „zufrieden“ oder „sehr zufrieden“. Kritik gab es jedoch in den Bereichen Barrierefreiheit, Sitzgelegenheiten und Angeboten für Senior:innen.
„Trotz der guten Bewertungen liegt hier besonders großes Potenzial,“ erklärte Achim Müller vom IKMW. „Zum Gesamteindruck gehört sowohl das künstlerische Erlebnis, die Ansprache und Kommunikation, als auch das davor und danach sowie die Atmosphäre des Ortes insgesamt. Hieran sollten zukünftige Maßnahmen ausgerichtet sein.“
Die Entscheidung für einen Theaterbesuch ist multifaktoriell, auch wenn weiterhin die persönliche Empfehlung eine der wichtigsten Faktoren für den Ticketkauf ist.
Erfreulich ist, dass knapp die Hälfte der Besucher:innen (49 Prozent) inzwischen den ÖPNV nutzt, um zum Theater zu fahren. „Das belegt wie wichtig unsere Kooperation mit dem GVH ist, denn mit ihrer Eintrittskarte können unsere Gäste den Nahverkehr kostenfrei nutzen,“ fasste Jürgen Braasch zusammen. Trotzdem kommen noch 36 Prozent mit dem PKW zum Theater, 11 Prozent nutzen das Fahrrad, 4 Prozent kommen zu Fuß.
Transparenz und Offenheit
Die Geschäftsführung der Staatstheater Hannover hat entschieden, die Ergebnisse der Studie öffentlich zugänglich zu machen und damit auch anderen Kultureinrichtungen zu ermöglichen, von den Ergebnissen profitieren zu können: „Wir stehen vor einer Zäsur. Und die Theater müssen einmal mehr in ihrer zweitausendjährigen Geschichte beweisen, dass sie sich wandeln können, ohne ihre Identität aufzugeben. Denn die Theater brauchen ihr Publikum. Ohne Publikum gibt es kein Theater. Und ohne Theater wäre diese Welt sehr arm dran,“ erklärt Sonja Anders. „Gemeinsam und mit Elan gehen wir neue Wege – und diese Studie gibt uns dafür einen Kompass an die Hand,“ ergänzt Laura Berman.