Gebäuderundgang

Das Rathaus von Außen (Nord)

Neues Rathaus

Was für ein gewaltiger Bau: Dreifach gegliedert wie ein barockes Schloss, mit zwei um Innenhöfe gruppierten Seitenflügeln und der kuppelbekrönten Mitte erhebt sich das Rathaus am Südrand der hannoverschen Innenstadt. 

Um den Baugrund in der feuchten Leinemasch abzusichern, wurden mindestens 6026 (andere Quellen sprechen sogar von über 12 000 oder noch mehr) Buchenpfähle in die Erde gerammt. Über eine Länge von 129 Metern erstreckt sich die nördliche Eingangsfront. Das Gebäude erreicht eine Tiefe von 124 Metern. Die Kuppel mit ihrer Spitze ragt 97,67 Meter in den hannoverschen Himmel, und selbst die beiden Seitentürme auf der Südseite sind 62 Meter hoch. Mindestens zehn Millionen Goldmark hat der Kommunalpalast damals gekostet. Ganz gesichert ist die Zahl nicht. Vielleicht haben unsere Vorväter bei der Schlussabrechnung doch ein bisschen geschummelt.  1906 war zunächst das – im Krieg zerstörte – Bauamtsgebäude im Osten fertig. Ab 1907 wurden die ersten Büroräume im Rathaus selbst bezogen.

Per Schrägaufzug nach oben

Den größten Teil der Bausumme (sie wurde mehrfach nach oben korrigiert) verschlang die gewaltige Kuppel. Sie ist – aus heutiger Sicht – völlig zweckfrei: ein großes Ausrufezeichen in der hannoverschen Stadtsilhouette. Prachtentfaltung pur: Außer den Treppenaufgängen im Innern der großen Zentralhalle hat sie keine praktische Bedeutung. Ihre Aufgabe ist Repräsentation – sieht man einmal ab von dem großartigen Rundblick, die Besucher von den Aussichtsplattformen in ihrer Laterne auf Hannover und sein Umland genießen können. Wer das will, muss nach dem Ticketkauf in der Vorhalle zunächst den Lift östlich der Zentralhalle benutzen. Im dritten Obergeschoss heißt es dann umsteigen. Von einem Plateau über den Rathausdächern (eventuell Wartezeit!) geht es dann weiter. Die Fahrt hinauf führt in einem Schrägaufzug vorbei an der von außen durch riesige Fensteröffnungen einsehbare, gut 30 Meter hohe obere Turmhalle. 43 Meter Höhenunterschied überwindet der Schräglift mit einer Geschwindigkeit von 0,8 Metern pro Sekunde. Nach zunächst acht Metern gerader Fahrt neigt sich die Kabine und folgt dann in einem Winkel von 15 Grad der Kuppelwölbung. Durch ein Fenster im Dach der Kabine lässt sich der Fahrtverlauf beobachten. Ein Erlebnis, das sich kein Hannover-Besucher entgehen lassen sollte, denn Aufzüge dieser Art sind eine Rarität. Der bekannteste verkehrt  in einem der Füße des Pariser Eiffelturms. Andere, die ebenfalls als Schrägaufzüge in Reiseführern und Lexika genannt werden, sind in Wahrheit Standseil-Kabinenbahnen, zum Beispiel die  am Pariser Montmartre. Die Anlage im hannoverschen Rathaus wird regelmäßig gewartet und vom TÜV überwacht. Der Lift tut seit dem Einbau 1912 unfallfrei seinen Dienst. 

Die Architektur Nord

Die nördliche, der Innenstadt zugewandte Vorderfront spiegelt die Dreigliederung der schlossartigen Gesamtanlage wider: Ein vorspringender Mittelteil mit dem Haupteingang, dem Baldachin über der Ratslaube und einem hochgezogenem Uhrengiebel beherrscht die gewaltige Front. Die langen Seitenflügel sind zurückgesetzt. Sie ruhen auf einem Sockelgeschoss, das den Bau noch imposanter erscheinen lässt und das parterre zu einem Hochparterre macht.

Rathaus-Architekt Hermann Eggert griff überwiegend auf Stilelemente der Neo-Renaissance zurück, wie sie mit dem Berliner Reichstagsgebäude von Paul Wallot als kaiserlich-preußische Nationalarchitektur  in Mode gekommen war. Hohe Rundbogenfenster, umlaufende Gesimse, Giebel und üppige aufgesetzte Dachgauben unterstreichen den monumentalen Charakter des Rathauses. Die in Hannover und Norddeutschland ab Mitte des 19. Jahrhunderts vorherrschende Neugotik war passé. Und damit auch ihr vorherrschendes Material, der Ziegel: Das Backsteinmauerwerk des Kommunalpalastes ist unter einem Kleid aus heimischem Naturstein verborgen. Für ein oder zwei Architektengenerationen der Nachkriegs-Moderne ein Material des Feudalismus.

Die Nordfassade

Das Rathaus ist – auch – ein steinernes Geschichtsbuch. Man muss es nur zu lesen verstehen. Für unsere Vorväter als Bauherren waren Verweise auf die Vergangenheit Programm, um sich und ihre Zeit in ein historisches Kontinuum zu stellen.

Vergoldete Uhr

Beiderseits der balkonartigen Ratslaube flankieren auf Säulen die Statuen der Hannovera (rechts, mit der Marktkirche) und der Germania (links, mit dem Schwert) den mittleren Portalvorbau. Sie versinnbildlichen die feste Einbindung der ehemals welfischen Hauptstadt des 1866 von Preußen annektierten Königreichs Hannover in das deutsche Reich. Zwei wehrhafte Löwen bewachen rechts und links in den Säulenbasen den Haupteingang. Löwen sind immer gängige Herrschersymbole an Schlossbauten gewesen. Hier demonstrieren sie, uminterpretiert, das Machtbewusstsein eines starken Stadtbürgertums.  

Der hohe Glockengiebel ist eine besondere Betrachtung wert. Die Dekorlust des späten Historismus ist hier buchstäblich auf die Spitze getrieben: von dort oben herab blickt der Kopf des griechischen Zeitgottes Kronos mit der Krone als Zeichen der Göttlichkeit. auf den giebelschrägen beiderseits des Zeitgotts schwimmen Delphine. „Sie wurden schon seit der antike als Sinnbilder der Menschenfreundlichkeit angesehen“, so der hannoversche Bauhistoriker Günther Kokkelink. Er erklärt auch die Bedeutung der Füllhörner beiderseits der Stundenglocken: „Mit Früchten gefüllt und mit Blumen bekränzt, gelten sie seit dem Altertum als Symbole der Fruchtbarkeit und Fülle.“

Die vergoldete Uhr wird eingerahmt von zwei Posaunenengeln. Der linke im Osten begrüßt mit seinem Signal   den Tag. Der andere hält inne, denn im Westen versinkt die Sonne zur Nacht. Darunter  recken als Halbreliefs der welfische Löwe und das Sachsenross in kämpferischer Pose ihre Körper in die Höhe. Damit war die Verbindung hergestellt zur welfischen Vergangenheit Hannovers und zu den stammesgeschichtlichen Wurzeln seiner Bevölkerung. Eine Überfülle also an Bildern und Symbolen, typisch für die Spätzeit des Historismus, als sich in Kunst und Architektur längst ganz andere Strömungen bemerkbar machten.

Der Baldachin der Ratslaube (von diesem Balkon aus wollten die Stadtoberen mit hohen Gästen die Huldigungen der  Bürgerschaft entgegennehmen) ist mit einem prächtigen goldglänzenden Mosaik ausgeschmückt. Vor seinem Kupferdach prangt ein von bärtigen Kriegern gehaltenes Stadtwappen mit dem Stadttor, dem Kleeblatt und wiederum dem Löwen. Es mutet heute fremdartig altertümlich an.  Unter Heraldikern ist bis heute umstritten, ob es sich bei dem Dreiblatt wirklich um ein Kleeblatt handelt oder vielleicht doch um Pfeilkraut oder ein anderes Gewächs. Ebenso ungewiss ist, ob sich der Stadtname Hannover (früher Honovere), wie die Legende besagt, tatsächlich vom „hohen Ufer“ der Leine herleitet.

Empfang König Ernst August 1837

Geschichtsschreibung ist eben nie über alle Zweifel erhaben, auch wenn sie von Bildhauern in Stein gemeißelt wurde. Manchmal weist sie Lücken auf. Beispielhaft demonstriert das der Geschichtsfries, der sich wie ein historisches Bilderbuch oberhalb der Fenster am ersten Obergeschoss der Rathaus-Vorderfront entlang zieht. Von links nach rechts, beginnend auf der linken Seite:

  1. Ein Mädchen aus dem „vicus Honovere“ betet am Grab des Hildesheimer Bischofs Bernward. Eine Darstellung der ersten urkundliche Erwähnung Hannovers in den „Miracula Sancti Bernwardi“ um 1150.
  2. Welfenherzog Otto das Kind bestätigt und erweitert 1241 die hannoverschen Stadtrechte.
  3. Erstürmung der Burg Lauenrode am linken, der Stadt gegenüber liegenden Burg Lauenrode 1371 durch die hannoverschen Bürger.
  4. Herzog Georg von Calenberg zieht 1636 in Hannover ein und macht es zu seiner Residenzstadt.
  5. Ernst August zieht nach dem Ende der Personalunion mit England 1837 als König in Hannover ein und wird von Stadtdirektor Rumann empfangen.
  6. Eine Lücke legt Zeugnis ab für das nahende Ende einer Epoche zurzeit des Rathausbaus: Die erste Steintafel des Frieses auf der rechten Seite ist frei geblieben. Das hier vorgesehene Reliefbild eines Besuchs von Kaiser Wilhelm II. in Hannover scheiterte an heftigen Auseinandersetzungen über die korrekte Darstellung seiner Majestät. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die Kapitulation 1918 und die anschließende Ausrufung der Republik ließen die Ausführung nicht mehr zu.
  7. Kurfürstin Sophie setzt Johann Gottfried Leibniz einen Lorbeerkranz auf. Der Philosph blieb ihr zu Liebe 1680 am hannoverschen Hof. Sophie wiederum begründete als Tochter von Kurfürst Friedrich von der Pfalz und Maria Stuart den welfischen Erbanspruch auf den englischen Thron. Ihr Sohn Georg Ludwig wurde 1714 in London als Georg I. zum englischen König gekrönt.
  8. Der hannoversche Freiherr Georg Konrad von Baring bei der Verteidigung des Gehöfts La Haye-Sainte 1815 in der Schlacht bei Waterloo gegen Napoleonische Truppen durch die Königlich-Deutsche Legion.
  9. Erste Erweiterung der Altstadt außerhalb ihrer mittelalterlichen Mauern: Bürgermeister Christian Ulrich Grupen erläutert dem Rat 1774 die Pläne für die Aegidienneustadt.
  10. Herzog Ernst der Bekenner empfängt 1526 das protestantische Abendmahl Ein Hinweis auf die bevorstehende Reformation und das Bekenntnis der Hannoveraner 1533 zum Luthertum (siehe Hodlersaal).

Vergeblich wird man im Schmuck- und Figurenprogramm der Rathausfassaden Darstellungen aus Wissenschaft und Technik suchen. Keine Dampflokomotive, kein Fabrikschlot, kein mechanischer Webstuhl sind Themen in dem Bilderbogen, obwohl diese Dinge mit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert längst das Alltagsleben der Menschen beherrschten.

Der Vorplatz

Der Platz der Menschenrechte vor dem Rathaus ist heute ein mit Platten belegter Architekturplatz. Bis zum 22. September 2024 hieß er noch Trammplatz, benannt nach Heinrich Tramm, Stadtdirektor von 1891 bis 1918 und Initiator des Rathausneubaus.

Der Trammplatz nach dem Umbau 2014/15 von der Kuppel aus gesehen. 2024 wurde er in Platz der Menschenrechte umbenannt.

Die früher streng symmetrisch gegliederte  Grünanlage war ehrenhofartig eingefasst:  rechts vom schon 1889 eingeweihten Kestnermuseum (Ursprungsbau ummantelt 1958 bis 1961 mit der heutigen Glas-Beton-Rasterfassade) und links vom schon 1906 fertig gestellten Bauamtshaus. Es war Teil der von Hermann Eggert konzipierten  Gesamtanlage und mit dem Hauptgebäude durch ein Tor und eine darüber geführte „Beamtenlaufbahn“) verbunden. Auch dieses Gebäude wurde auf Buchenpfähle gegründet. Die Bauakten sprechen von 3500 Stämmen.

Nach Kriegszerstörung  wurde die Ruine des Bauamts  abgerissen und durch eine Rasenfläche ersetzt. Unter Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht erhielt die Bauverwaltung in den 50er Jahren einen Neubau rechts neben dem Rathaus. An das ursprüngliche Dreier-Ensemble von Trammplatz 1 (Bauamt), Trammplatz 2 (Rathaus) und Trammplatz 3 (Kestnermuseum) erinnerten bis zur Umbenennung noch die alten Postadressen.

Der Platz

Von einer ersten Treppe an der Friedrichstraße (heute Friedrichswall) führte ein breiter Weg zwischen zwei gepflegten Rasenstücken direkt auf die Rathaustreppe zu. Der tiefer gelegte Platz  steigerte die monumentale Wirkung des Gebäudes noch. Ideell angedacht, aber nie verwirklicht war eine axiale Verbindung zwischen der Altstadt und dem Neuen Rathaus. Die Chance dazu wurde in den 60er Jahren mit dem  Bau des Hotels Intercontinental (heute Maritim Grand) endgültig verbaut.

Der Straßenverkehr forderte seinen Tribut:  Die vordere Treppe fiel 1961 mit einem Teil der Anlage der  Verbreiterung des Friedrichswalls zum Opfer. Der Platz erhielt seine heutige moderne Form und einen ersten Brunnen, der 1996 durch den heutigen Klaus-Bahlsen-Brunnen ersetzt wurde.

Die –­ unhistorische ­– Pflasterung hat den Platz bespielbar und benutzbar gemacht. Höhepunkte sind jedes Jahr die Freiluftkonzerte des hannoverschen Jazzclubs, die an den Himmelfahrtstagen Tausende von Fans anlocken. Alljährlich am Sonntag vor dem ersten Montag im Juli gibt der Oberbürgermeister hier mit dem Kommando „Meine Damen und Herren Schützen, im Doubliertritt Marsch!“ den Startschuss zum traditionellen Schützenumzug. Der korrekte Name Schützenausmarsch rührt daher, dass der Schieß- und Festplatz früher vor den Stadttoren lag. Vor der Expo 2000 wehten auf dem Trammplatz die Flaggen der Staaten, die sich zur Teilnahme an der Weltausstellung angemeldet hatten.

Zeitläufte

Rathauseinweihung 1913

Die Rathausfront und ihr Vorplatz waren über Jahrzehnte  Zeugen einer wechselvollen Geschichte. Hier fuhr 1913 Kaiser Wilhelm II. im offenen Kraftwagen zur Einweihung des Hauses vor. Im November 1918 erklommen die Mitglieder des  Arbeiter- und Soldatenrats die Stufen der Rathaustreppe, um nach der Abdankung des Kaisers dem Magistrat ihre Forderungen zu überbringen. Das Schwarz-Rot-Gold der Weimarer Republik wehte danach an den Flaggenmasten. Jedoch nicht sehr lange. Am 5. März 1933 hissten SA-Männer Schwarz-Weiß-Rot und die Hakenkreuzfahne über dem Rathaus. Die NS-Bürgervorsteherfraktion posierte 1933 für ein Foto auf dem Rathausbalkon. Das Hakenkreuz wehte auch am 26. Juni 1941 über dem Portal, zur Erinnerung an die Bestätigung der Stadtrechte durch Otto das Kind 700 Jahre zuvor. Nach Feiern war kaum jemand zu Mute. Es war Krieg. Wenige Tage zuvor hatte die Deutsche Wehrmacht mit dem Überfall auf die Sowjetunion die Hoffnungen vieler Menschen auf einen baldigen Frieden zunichte gemacht. NS-Propagandaminister Joseph Goebbels hielt in der Kuppelhalle am 5. November 1943 nach den verheerenden Zerstörungen der Stadt durch alliierte Luftangriffe eine Durchhalterede. Seine „Botschaft des Führers“ (so war das Ereignis auf Plakaten angekündigt) wurde mit Lautsprechern auf den Trammplatz übertragen.  Auf dem Platz hatten die NS-Machthaber ein theatralisches Mahnmal für die Opfer des Bombenkriegs in Form einer Todesrune aufrichten lassen. Ein Menetekel.

Heuss, die Queen und König Fußball

 Am 10. April 1945 besetzten amerikanische Truppen die Stadt und  das Rathaus. Am 9. Mai 1945, dem offiziellen Tag des Kriegsendes, wehten die Flaggen der drei westlichen Siegermächte USA, England und Frankreich über dem Haupteingang. Offiziere der britischen Militärregierung hatten Teile des Rathauses für ihre Dienststellen beschlagnahmt und gingen von nun an ein und aus. Doch nach und nach kehrte die Normalität zurück. 1949 erklomm der erste Präsident der jungen Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss, die Treppen zu seinem Antrittsbesuch in Hannover.   1965 wehte wieder der Union Jack vor dem Portal, als der damalige Oberbürgermeister August Holweg die britische Königin Elisabeth II. im Rathaus zu einem ersten offiziellen Besuch empfing. Es ist eine gute Tradition geworden, dass der Oberbürgermeister vor Besuchen von ausländischen Gästen deren Nationalflaggen vor dem Rathaus aufziehen lässt.

Höhepunkt für die fußballbegeisterten Hannoveraner war 1992 den Gewinn des deutschen Fußballpokals durch einen Sieg in Berlin über Borussia Mönchengladbach. Die Mannschaft wurde im Rathaus empfangen und ließ sich auf dem Balkon von den jubelnden Fans auf dem Trammplatz feiern.


Texte mit freundlicher Genehmigung von Michael Krische.